Der winzige Kater saß regungslos auf der Fahrbahn. Nachdem sein Bruder am Tag zuvor genau an dieser Stelle überfahren worden war, konnten wir nicht anders als ihn mitzunehmen.
Wir kamen vom abendlichen Füttern unserer Olivenhainkatzen, als wir den Winzling nur einen Meter entfernt vom Futterplatz in Kontomari ausmachten. Den Platz betreiben engagierte und tierliebende Menschen aus dem Dorf in Eigeninitiative. Sie füttern, kastrieren und impfen. Doch immer wieder werden dort Kitten ausgesetzt, auch solche, die noch nicht ohne Mutter sein sollten. Der Kleine war schwach und schaffte mit seinen kurzen Beinchen den Weg hinüber zum Futter nicht mehr. Wir hielten an, um ihn wie so oft zuvor hinüberzutragen. Doch dann überkam uns ein ungutes Gefühl: Wenn wir ihn heute nicht mitnehmen, liegt er morgen vielleicht auch tot da. Der Gedanke war unerträglich.
Da gerade nichts anderes zur Hand war, steckte ich den armen Kerl für den Transport kurzentschlossen in mein T-Shirt. Er wehrte sich nicht, sondern genoss die menschliche Wärme. Zuhause angekommen dauerte es nicht lange, bis er über den Futternapf herfiel. Mit allen vier Pfötchen saß er in der Schale – Baby Mika war im Schlaraffenland angekommen.
Den Namen „Mika“ steuerte übrigens meine Nichte bei. Für die Nacht nahmen wir den Winzling in einer Transporttasche mit ins warme Bett.
Okay, der Kleine hätte natürlich in Quarantäne gemusst. Wir hatten jedoch das Gefühl, dass Liebe und Wärme jetzt erste Priorität haben. Für unsere felligen Mitbewohner bestand nie eine Gefahr. Der Neuankömmling hatte eh‘ keinen direkten Kontakt zu ihnen. Unsere weißen Tiger mieden den Eindringling zunächst noch und zogen sich beleidigt auf ihren Balkon zurück. Nur Kater Blacky ließ sich seinen abendlichen Schmuseplatz auf der Couch nicht streitig machen.
Besuch beim Tierarzt
Fünf, maximal sechs Woche sei der Kater alt, meinte Tierarzt Stavros Daskalakis am nächsten Tag. Da uns der Kleine schon zwei bis drei Wochen am Futterplatz aufgefallen war, lässt sich leicht ausrechnen, in welchem Alter er ausgesetzt wurde. Wer dafür die Verantwortung trägt, weiß niemand. Anastasia, die den Futterplatz betreut, erlebt genau das ständig. Und die meisten der Kleinen kommen nicht durch. Auch Mika war ohne die Milch und den Schutz der Katzenmutter eigentlich zum Sterben verurteilt. Solche Winzlinge sind anfällig für jeden Keim und kommen auch mit dem Erwachsenenfutter nicht gut klar. Von den Gefahren der Straße ganz zu Schweigen. Mika hatte insofern Glück, dass eine englische Touristin die kranken Augen bemerkte und sie regelmäßig reinigte und behandelte. Sie hatte damit einen guten Grundstein gelegt.
Tierarzt Stavros Daskalakis verordnete bei unserem Besuch in der Praxis Antibiotika und Augentropfen gegen die diagnostizierte Chlamydien-Infektion. Außerdem desinfizierte er den Zwerg gründlich. Denn in seinem Fell hatten sich allerhand Parasiten breit gemacht. Ansonsten sei aber alles mit ihm okay. Wahrscheinlich würde er mit der Behandlung jetzt sogar seine Sehfähigkeit behalten.
Baby Mika lebt sich ein
Zwei Wochen sind vergangen. Die tägliche Antibiotika-Gabe ist weiterhin ein Drama, sonst aber hat sich der Süße gut entwickelt. Er spring munter durch die Wohnung, erklimmt fast jedes Hindernis und buhlt bei den großen Katzen nachdrücklich um Freundschaft. Die sind immer noch nicht besonders nett zu ihm, aber Mika lässt sich nicht beirren. Wer im Alter von zwei Wochen schon allein auf der Straße durchkommen musste, ist schließlich ein Kämpfer.
Dafür liebt Tori den Kleinen abgöttisch. Unsere Hündin ist reineweg närrisch nach dem Katerchen und schleckt in ab, wann immer sie kann. Doch Mika macht so viel Zuwendung noch etwas Angst, schon wegen der großen Pfoten 🙂
Wir selbst erleben gerade ein Déjà-vu. Sooo lange ist es ja nicht her, dass unsere weißen Tiger so winzig waren. Nur dieses Mal, mit nur einem Kitten und ohne eine Katzenmutter, die sich kümmert, erleben wir die Entwicklung sehr viel intensiver. Das macht riesig Spaß.
Nachtrag 2. Dezember 2023
Baby Mika braucht schnellstmöglich eine Operation. Nachdem wir Auffälligkeiten beim Atmen festgestellt hatten, wurde der kleine Kater heute untersucht und geröntgt. Die Tierärztinnen fanden einen Zwerchfellbruch. Das bedeutet, dass Thorax und Bauchraum nicht voneinander getrennt sind … Ursache kann ein Sturz oder eine Fehlbildung im Mutterlaib sein.
Das Problem mit der OP: Mika ist zu klein. Er muss für die Narkose schnellstmöglich an Gewicht zulegen. Das ist aber nicht so leicht, weil Mika sehr viel Energie für das Atmen braucht. Wir tun, was wir können, und hoffen, dass alles gut geht.
Nachtrag 22. Mai 2024
Die Aussage, Mika brauche 1.800 – 2.000 Gramm für die Anästhesie war falsch. Das gilt für eine Kreta-Tierarztpraxis, nicht für eine modern ausgestattete Athener Tierklinik. Als Mika heute dort operiert wurde, waren die Schäden, die die in den Thorax gerutschte und erheblich aufgeblähte Leber angerichtet hatte, schon viel zu groß. Die OP war extrem schwierig wegen der Komplikationen, die das OP-Team letztendlich aber im Griff hatte. Doch Mika hat es nicht geschafft wieder selbst zu atmen, weil die gequetschten Lungenflügel verkümmert sind. Am Ende versagten alle Organe. Wir mussten unseren süßen Liebling gehen lassen. R.I.P. kleiner Mika.